Rechte Parteien in Europa: Wie stark sind sie wirklich?

In den letzten Jahren hat sich die politische Landkarte Europas dramatisch verändert. Ein Phänomen, das die Schlagzeilen und politischen Debatten dominiert, ist der stetige und unübersehbare Aufstieg rechter Parteien. Von den skandinavischen Ländern bis zum Mittelmeer, von den Gründungsmitgliedern der EU bis zu den jüngeren Demokratien in Osteuropa – nationalkonservative, rechtspopulistische und rechtsextreme Kräfte gewinnen an Boden. Sie erzielen Rekordergebnisse bei Wahlen, ziehen in Regierungen ein und verschieben die Grenzen des Sagbaren. Doch wie stark sind diese Parteien wirklich? Handelt es sich um eine vorübergehende Protestwelle oder um eine tiefgreifende, strukturelle Veränderung unserer Demokratien? Dieser Beitrag bietet eine Analyse der aktuellen Lage, beleuchtet die Ursachen und wirft einen Blick auf die Konsequenzen für Europa.

Was verstehen wir unter "rechten Parteien"?

Bevor wir die Stärke dieser Bewegungen bewerten, ist eine Klärung der Begriffe unerlässlich. Der Sammelbegriff "rechte Parteien" ist oft unscharf und umfasst ein breites politisches Spektrum. Es ist wichtig, zwischen verschiedenen Strömungen zu differenzieren. Traditionelle konservative oder christdemokratische Parteien, die lange Zeit das rechte Zentrum bildeten, sind hier nicht primär gemeint. Die aktuelle Debatte konzentriert sich vielmehr auf eine neue Generation von Parteien, die sich in wesentlichen Punkten von der etablierten Rechten unterscheiden. Dazu gehören:

  • Rechtspopulistische Parteien: Sie stellen oft einen vermeintlichen "Volkswillen" einer korrupten "Elite" gegenüber. Ihre Rhetorik ist emotional, polarisierend und zielt auf die Mobilisierung von Unzufriedenheit ab. Ein zentrales Thema ist die Kritik an der Globalisierung und der Einwanderung.
  • Nationalkonservative Parteien: Diese Parteien betonen die Souveränität des Nationalstaates, traditionelle Werte und eine restriktive Migrationspolitik. Sie sind oft EU-skeptisch, fordern aber nicht zwingend den Austritt aus der Union, sondern eine "Reform" hin zu einem "Europa der Vaterländer".
  • Rechtsextreme Parteien: An diesem Ende des Spektrums finden sich Parteien mit völkisch-nationalistischen, rassistischen oder autoritären Ideologien, die in Teilen die demokratische Grundordnung in Frage stellen. Die Übergänge zwischen den Kategorien sind oft fließend, und viele Parteien weisen Merkmale aus allen drei Bereichen auf.

Gemeinsame Nenner sind häufig eine kritische bis ablehnende Haltung gegenüber Einwanderung, insbesondere aus muslimisch geprägten Ländern, eine Betonung der nationalen Identität und Kultur sowie eine Skepsis gegenüber supranationalen Institutionen wie der Europäischen Union.

Fallstudien: Macht und Einfluss in Schlüsseländern

Die Stärke rechter Parteien manifestiert sich in verschiedenen Ländern auf unterschiedliche Weise. Während sie in einigen Staaten die Regierung anführen, sind sie in anderen die führende Oppositionskraft oder einflussreicher "Königsmacher".

In Italien hat Giorgia Meloni mit ihrer Partei Fratelli d'Italia (Brüder Italiens), die postfaschistische Wurzeln hat, eine bemerkenswerte Entwicklung vollzogen. Seit 2022 führt sie als Ministerpräsidentin eine Rechtskoalition an. Ihr Erfolg zeigt, wie eine Partei vom äußersten Rand ins Zentrum der Macht rücken kann, indem sie ihre Rhetorik anpasst, sich auf internationaler Bühne pragmatisch zeigt (z. B. durch ihre Unterstützung der Ukraine), aber innenpolitisch eine harte Linie in der Migrations- und Gesellschaftspolitik verfolgt.

In Frankreich ist der Rassemblement National (RN) unter Marine Le Pen seit Jahren eine feste Größe. Bei den Präsidentschaftswahlen erreicht Le Pen regelmäßig die Stichwahl und hat die Partei von einer reinen Protestbewegung zu einer ernstzunehmenden politischen Kraft mit breiter Wählerbasis entwickelt. Bei den Europawahlen 2024 wurde der RN mit Abstand stärkste Kraft, was die etablierten Parteien unter enormen Druck setzt und die politische Stabilität des Landes erschüttert.

Ein Blick nach Deutschland zeigt die Stärke der Alternative für Deutschland (AfD). Insbesondere in den ostdeutschen Bundesländern ist sie bei Wahlen oft die stärkste oder zweitstärkste Kraft. Trotz interner Skandale und der Beobachtung durch den Verfassungsschutz hat sich die AfD als feste Oppositionspartei im Bundestag etabliert und prägt die öffentliche Debatte über Migration, Energie und EU-Politik maßgeblich mit. Ihre Stärke zwingt die anderen Parteien, sich zu positionieren und erschwert die Regierungsbildung.

Auch in Skandinavien, das lange als Bastion der Sozialdemokratie galt, hat sich das Bild gewandelt. In Schweden sind die Schwedendemokraten, eine Partei mit rechtsextremer Vergangenheit, zur zweitstärksten Kraft im Parlament aufgestiegen und stützen die bürgerliche Minderheitsregierung. In Finnland ist die Partei "Die Finnen" ein wichtiger Koalitionspartner in der aktuellen Rechtsregierung. In beiden Ländern haben sie maßgeblichen Einfluss auf eine deutlich restriktivere Einwanderungs- und Integrationspolitik.

Die Visegrád-Gruppe: Nationalkonservatismus als Staatsräson?

In den osteuropäischen EU-Mitgliedstaaten hat sich der Nationalkonservatismus teilweise schon vor Jahren als Regierungsideologie etabliert. Das prominenteste Beispiel ist Ungarn unter Viktor Orbán und seiner Fidesz-Partei. Orbán hat das Land systematisch in eine "illiberale Demokratie" umgebaut, die Medien kontrolliert, die Justiz eingeschränkt und einen ständigen Konflikt mit den EU-Institutionen in Brüssel führt. Seine Rhetorik gegen Migration und "Gender-Ideologie" findet auch bei rechten Parteien in Westeuropa Anklang.

In Polen regierte die Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) acht Jahre lang und verfolgte einen ähnlichen Kurs. Obwohl sie die Wahl 2023 verlor, bleibt sie eine extrem starke Oppositionspartei mit einer loyalen Wählerbasis und großem Einfluss auf die Gesellschaft. Auch in der Slowakei und in Tschechien sind rechtspopulistische und nationalistische Kräfte einflussreich und oft an Regierungen beteiligt oder stellen diese sogar.

Ein Mosaik der Ursachen: Warum gewinnen diese Parteien an Zuspruch?

Der Erfolg der Rechten lässt sich nicht auf einen einzigen Grund zurückführen. Es ist ein Zusammenspiel verschiedener Faktoren, die sich gegenseitig verstärken.

  1. Migrationskrisen und Integrationsprobleme: Die Flüchtlingswelle von 2015 war zweifellos ein Katalysator. Sie schuf bei Teilen der Bevölkerung Ängste vor Kontrollverlust, kultureller Überfremdung und Belastung der Sozialsysteme. Rechte Parteien konnten diese Sorgen erfolgreich aufgreifen und politisieren. Anhaltende Debatten über die Integration von Zuwanderern und die Sicherheit an den EU-Außengrenzen halten das Thema auf der Tagesordnung.
  2. Wirtschaftliche Unsicherheit und Abstiegsängste: Die Folgen der Finanzkrise von 2008, die Globalisierung und der Strukturwandel in der Industrie haben in vielen Regionen zu einem Gefühl der wirtschaftlichen Unsicherheit geführt. Menschen, die sich abgehängt fühlen, sind empfänglicher für die Botschaft, dass "die da oben" sie vergessen haben und dass nationale Interessen Vorrang haben sollten.
  3. Kultureller Backlash: Die rasche Liberalisierung der Gesellschaft in Fragen wie Gender, Familie und sexueller Orientierung stößt bei konservativen Teilen der Bevölkerung auf Ablehnung. Rechte Parteien positionieren sich als Verteidiger traditioneller Werte und einer "normalen" Lebensweise und führen einen "Kulturkampf" gegen progressive Eliten.
  4. Entfremdung von den etablierten Parteien: Eine wachsende Zahl von Wählern fühlt sich von den traditionellen Volksparteien der Mitte nicht mehr repräsentiert. Sie werfen ihnen vor, in wichtigen Fragen (z. B. Migration, Klimapolitik) zu ähnlich zu sein und die Sorgen der "normalen Leute" zu ignorieren. Die Wahl einer rechten Partei wird so zu einem Akt des Protests und des Wunsches nach einem radikalen Politikwechsel.

Auswirkungen auf die Europäische Union

Der Aufstieg der Rechten ist nicht nur ein nationales, sondern ein europäisches Phänomen mit gravierenden Folgen für die EU. Im Europäischen Parlament bilden die nationalkonservativen (EKR) und rechtsextremen (ID) Fraktionen einen immer stärkeren Block. Sie können Gesetze blockieren, Debatten bestimmen und den politischen Kurs der Union beeinflussen. Besonders in Politikfeldern wie dem Green Deal, der Migrationspolitik und der Rechtsstaatlichkeit wird der Widerstand größer.

Noch wichtiger ist ihr Einfluss im Europäischen Rat, dem Gremium der Staats- und Regierungschefs. Mit Politikern wie Meloni oder Orbán am Tisch wird es schwieriger, einstimmige Beschlüsse zu fassen, etwa in der Außen- und Sicherheitspolitik. Die traditionelle deutsch-französische Achse verliert an Kraft, und neue Allianzen entstehen. Die EU wird dadurch zwar nicht zwangsläufig handlungsunfähig, aber ihre Entscheidungsprozesse werden komplizierter und konfliktreicher.

Europas politische Landschaft im Wandel: Ausblick und Perspektiven

Die Analyse zeigt deutlich: Die Stärke rechter Parteien in Europa ist keine vorübergehende Erscheinung, sondern eine tiefgreifende Verschiebung der politischen Koordinaten. Sie sind in vielen Ländern zu einer dominanten oder zumindest systemrelevanten Kraft geworden, die Regierungen bildet, die Opposition anführt und die öffentliche Debatte nachhaltig prägt. Ihr Erfolg basiert auf einem komplexen Bündel aus realen Problemen, gesellschaftlichen Ängsten und dem Gefühl mangelnder Repräsentation. Die etablierten Parteien stehen vor der gewaltigen Herausforderung, Antworten auf die Sorgen der Bürger zu finden, ohne die Rhetorik und die einfachen Lösungen der Rechten zu übernehmen. Die Zukunft der europäischen Integration und der liberalen Demokratie, wie wir sie kennen, wird maßgeblich davon abhängen, ob es gelingt, diesen Spagat zu meistern und das Vertrauen der Wähler zurückzugewinnen. Europa steht an einem Scheideweg, und der weitere Weg ist noch ungewiss.






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